Schlafschulden und Sternstunden

Zugegeben, als Kind klingt der Satz „Geh jetzt schlafen“ wie eine Strafe. Kleine Menschen wollen Abenteuer erleben, die Eindrücke des Tages aufsaugen, der Müdigkeit trotzen. Doch dann, aus heiterem Himmel, werden ihre Augen vom Sandwesen bestäubt, und der Schlaf holt die kleinen Abenteurer:innen zu sich. Als würden sie in ein wahrhaftiges Schlummerland eintauchen und weitere Robinsonaden erleben, während ihr Körper zugleich lebenswichtige Prozesse vollzieht. Erst Jahre später verwandelt sich der vermeintlich lästige Schlaf der Kindheit in einen wertvollen Schatz, der im alltäglichen Trubel mehr als erwünscht ist. Ja, es ist eine wahre Wohltat, für ein paar Stunden die schweren Lider zu schließen, die Muskeln zu entspannen und den Verpflichtungen für einen stillen Moment zu entkommen.

Heutzutage haben wir vergessen, dass der Schlaf einst eine vielfältigere Struktur hatte und Unterbrechungen normal waren. Unsere Gesellschaft hat das natürliche Schlafritual verändert und der Leistungskultur unterworfen.

Vor über 200 Jahren …

… schliefen die Menschen noch in Schichten. Wenn abends die Lichter schummrig dahinflackerten – vom Kerzenlicht und den wärmenden Flammen des Feuers – stellte sich durch die Melatoninbildung ganz von selbst die Müdigkeit ein. Man legte seinen Körper zur Ruhe, um dann ein paar Stunden später wieder aufzuwachen. Nicht, weil ein Wecker klingelte, sondern weil die innere Uhr es verlangte. Um Mitternacht und in den ersten Stunden des neuen Tages wachen meist auch die Babys auf. Sie tragen noch den natürlichen Instinkt des geteilten Schlafrhythmus in sich. Im Mittelalter waren solche nächtlichen Unterbrechungen üblich. Und auch wenn keine Babys gestillt werden mussten: Die nächtliche Stille diente dem Innehalten, dem Schwelgen in Gedanken, dem Verrichten kleiner Arbeiten, dem Austausch miteinander.

Denn …

… das Gehirn arbeitet nachts anders als tagsüber. Die äußere Stille lässt den eigenen Gedanken mehr Raum. Die Wahrnehmung wird geschärft, Kreativität kann sich entfalten. Plötzlich tauchen Ideen auf, die sich bei Tageslicht hinter der Reizüberflutung verstecken. Warum das so ist? Durch das Melatonin sinkt der Cortisolspiegel – wir werden ruhiger und entspannter. Doch Vorsicht: Gleichzeitig verstärken sich Gefühle, die sich im Licht und in der Hektik des Tages wieder relativieren. Ängste können überwältigende Ausmaße annehmen, Sorgen wirken intensiver. Wenn die Sterne hoch am dunkelblauen Himmelszelt stehen, setzt sich die innere Weisheit mit den Sorgenmonstern an denselben Tisch. Letztere wollen sich oft nur wichtiger darstellen, als sie in Wahrheit sind.

Es lohnt sich also, die Kraft der Nacht zu nutzen – besonders für kreative Arbeiten und für tiefgründige Fragen des Lebens. Das Bewusstmachen ihrer Intensität kann helfen, klare Entscheidungen zu treffen. Ideen lassen sich aufschreiben, um im Tageslicht nachzuspüren, ob sie wirklich brillant waren oder doch zu überstürzt (und nein, ich verrate jetzt nicht, wie viele Käufe ich nachts schon getätigt habe, die ich später bereute).

Warum segmentierter Schlaf heute schädlich sein kann

Heute wissen wir, dass unsere Vorfahren unterteilte Schlafgewohnheiten hatten. Doch warum haben wir eigentlich damit aufgehört?

Die industrielle Revolution brachte eine tiefgreifende Veränderung in unsere Schlafkultur. Arbeiten waren nicht mehr von den Jahreszeiten abhängig, Maschinen ersetzten menschliche Arbeitskraft und verlangten strenge Regelmäßigkeit. Die Anpassung an den neuen Arbeitsmarkt erforderte auch eine Anpassung des Schlafrhythmus. Sonne und Mond wurden ersetzt durch das Ein- und Ausstempeln.

Schlaf wurde zum Störfaktor – ein mühsames Anhängsel des menschlichen Grundbedürfnisses, das Zeit und Geld kostete. Zeit, in der man produktiv sein könnte. Mit dem elektrischen Licht konnten Menschen auch nachts tüchtig und arbeitswillig sein. Der Schlaf musste neu programmiert werden: der Tüchtigkeit angepasst und in aneinandergereihten Stunden vollzogen. Wirtschaftswachstum hochgeschraubt, Grundbedürfnisse heruntergeschraubt.

Die Acht-Stunden-Schlafgewohnheit ist eine relativ junge Erscheinung. Mit der Industrialisierung wurde sie jedoch notwendig. Denn: Mit dem Schlafen verhält es sich wie mit dem Geld. Gerät man in Mangel, lässt sich das Defizit nur mühsam wieder ausgleichen. Wer also eine Nacht zwei Stunden später ins Bett geht, sollte diese in der folgenden Nacht nachholen, andernfalls erhöhen sich die Schlafschulden. Das kann enorme Auswirkungen auf die Gesundheit haben.

Im Norden Europas war die Nacht zweigeteilt, im Süden der Tag – beide zeigen, dass Schlaf historisch nicht monolithisch, sondern situationsabhängig war.

Ich erinnere mich an eine Reise nach Spanien, nach Sevilla. Die Sonne brannte auf unsere Köpfe, es war kurz nach Mittag. Die Füße ließen sich nur schwer über den überhitzten Asphalt vorantreiben. Die Geschäfte waren geschlossen, der Trubel der Stadt ausgedünnt. Wir kehrten zum Ausruhen in unser Appartement zurück. Meine Kinder tobten im Innenhof. Plötzlich ein lautes Rufen hinter den zugezogenen Rollos: „Geht’s noch? Es ist Siesta. Die Kinder dürfen nicht spielen!“ Wir erschraken. Natürlich hatte ich von der Siesta gehört und wusste, dass es in Spanien üblich ist, eine Nachmittagspause einzuhalten. Doch die Bedeutung wurde mir erst in diesem Moment bewusst. Alle im Haus schliefen. Eine absurde Vorstellung für mich – absurd, aber nachvollziehbar. Den Tag in zwei Teile zu gliedern, wenn die äußeren Bedingungen zu rau sind, um produktiv zu sein.

Bei uns hingegen ist man gezwungen, nach den Regeln des Systems zu funktionieren, nicht nach den Gegebenheiten. Folgt man dem Drang nach Schlaf und Ruhe, gesellen sich Schuldgefühle zum Leistungsdruck. Dabei wird übersehen, dass zwar mehr Umsatz generiert wird, die Qualität jedoch nachlässt – im Gesundheitswesen, in den Dienstleistungsbetrieben, im Schulsystem. Es herrscht eine chronische Erschöpfung weltweit, weil einem unsichtbaren Versprechen hinterhergejagt wird, das in Wahrheit nicht die ersehnte Fülle verspricht. Im Gegenteil: Die Konsequenz der Leistungsgesellschaft fordert viele Opfer.

Das Schlafverhalten von heute ist im Grunde gar nicht so weit entfernt vom mittelalterlichen

Das schummrige Kerzenlicht ist dem Blaulicht des Smartphones gewichen. Wo sich einst Gedanken ordneten, treiben sie nun zerstreut im endlosen Fluss des Instagram-Feeds. Der Fingerwisch dient als Rosenkranz – nur ohne ruhebringende Wirkung. Vielleicht ist es tröstlich zu wissen, dass nichts falsch mit uns ist, wenn wir nachts umherwandeln. Wichtig ist allein das Schlafkonto, das genügend Ruhestunden einfordert. Die Zeit dazwischen birgt großes Potenzial, um wertvolle Momente zu schaffen.

Vielleicht liegt die größte Wahrheit darin, dass Schlaf kein Verlust, sondern ein Gewinn ist. Wer ihn achtet, schenkt sich selbst nicht nur Erholung, sondern auch Klarheit, Kreativität und die stille Kraft, dem Tag mit neuer Würde zu begegnen. In einer Welt, die uns pausenlos antreibt, ist das Schließen der Augen ein Akt der Selbstbestimmung – ein leiser Protest gegen die Rastlosigkeit. Und vielleicht ist es genau dieser nächtliche Rückzug, der uns am Ende wieder mit dem Leben versöhnt.

Kleines Schlafroutinelexikon

Sanftes Journaling: Gedanken oder Träume kurz notieren, um Klarheit zu gewinnen und den Kopf zu entlasten.

Atemübungen / Meditation: Kurze Atemrituale oder stille Meditation helfen, den Körper wieder in Ruhe zu bringen.

Lesen im gedämpften Licht: Ein paar Seiten eines beruhigenden Buches (kein Bildschirm) können die Wachphase in Inspiration verwandeln.

Kreative Skizzen: Ideen, die nachts auftauchen, aufschreiben oder skizzieren – oft sind sie besonders originell.

Leichte Bewegung: Sanftes Dehnen oder Yoga im Halbdunkel kann Spannungen lösen, ohne den Kreislauf zu sehr zu aktivieren.

Bewusste Stille: Einfach die nächtliche Ruhe wahrnehmen – ein Moment, der tagsüber selten möglich ist.

Tagsüber den Ausgleich finden

Power-Naps (10–20 Minuten): Kurze Schlafinseln am Nachmittag gleichen nächtliche Unterbrechungen aus.

Rhythmische Pausen: Kleine Unterbrechungen während der Arbeit (Stretching, Spaziergang) verhindern Erschöpfung.

Bewusste Ernährung: Leichte Mahlzeiten am Abend und ausreichend Wasser tagsüber unterstützen die Schlafqualität.

Digitale Hygiene: Abends Blaulicht reduzieren, tagsüber bewusst mit Bildschirmen umgehen.

Regelmäßigkeit: Auch wenn der Schlaf segmentiert ist, hilft ein konstanter Rahmen (ähnliche Schlafenszeiten).

Gewinn aus dem Schlaf ziehen

Akzeptanz statt Kampf: Wachphasen nicht als „Störung“, sondern als Teil des natürlichen Rhythmus sehen.

Potenzial nutzen: Die Nacht als Raum für Intuition und Kreativität begreifen.

Balance schaffen: Tagsüber bewusst Ausgleich suchen, damit die Nacht nicht zur Belastung wird.

Gesundheit im Blick: Schlafschulden ernst nehmen und rechtzeitig ausgleichen, bevor sie sich summieren.

2 Gedanken zu „Schlafschulden und Sternstunden“

  1. Danke für diesen spannenden Artikel. Wenn wir den Schlaf aus schamanischer Weisheit betrachten, wurde und wird der Schlaf bewusst genutzt für Traumreisen ins Unterbewusste. Denn unser Hirn durchschreitet verschiedene Stadien von Frequenzen. Dabei wird auch der hypnotische Zustand, bei den Ägyptern der Traumschlaf, genutzt um Heilung zu finden. Ich bin sicher, dass dies auch nicht eine für die leistungsorientierten Mächte erfreuliche Gewohnheit war.
    Wir dürfen es wieder lernen und erinnern. Dein Artikel ist ein erster Schritt. 🙏🏼❣️

    1. Sehr spannend. Der Artikel und auch Franziska’s Text. Ich freue mich schon wenn ich nicht mehr ins Büro muss und dann die halbe Nacht Bücher lesen kann ohne den Druck früh aufstehen zu müssen

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