Anna saß auf ihrem Bett im engen Zimmer, das sie mit ihren Schwestern teilte. An diesem heißen Julimorgen fühlte sich ihr Magen wie zugeknotet an. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich, während ihre feuchten Hände das verweinte Gesicht umschlossen. In ihr wuchs neues Leben heran – etwas, das niemals hätte geschehen dürfen.
Vor einigen Monaten hatte sie Thomas auf einem Vereinsfest ihres Vaters kennengelernt. Anna war sechzehn, ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen, mit einer Mutter, die mit vier Kindern überfordert war, und einem Vater, der sich mühte, die Familie zu versorgen und auf ein Eigenheim zu sparen.
Sie besuchte eine Frauenschule und half ihrer Mutter im Haushalt. Doch insgeheim träumte sie von einer Freiheit, die für junge Frauen der Fünfzigerjahre hinter verschlossenen Türen schlummerte. Ihre Situation war ausweglos und beängstigend. Schwanger zu sein – von einem Jungen, den sie kaum kannte und mit dem keine Ehe in Aussicht stand – bedeutete eine Zukunft voller Belastungen.
Anna hielt ihren Bauch, wissend, dass sie dieses Kind nicht behalten konnte. Thomas wollte es keinesfalls, und ohne seine Unterstützung würde ihr das Kind entzogen. Es müsste in einer Pflegefamilie untergebracht werden, sie hätte kein Sorgerecht, und ihre berufliche Zukunft wäre ungewiss.
Der Gedanke war kaum zu ertragen. So fasste sie den Entschluss, die Schwangerschaft zu beenden. Nicht ganz freiwillig, Thomas drängte sie dazu.
Damals existierte eine Untergrundorganisation – bestehend aus Hebammen, Krankenschwestern und sozial engagierten Frauen –, die jungen Müttern half, ihr Ungeborenes zu entfernen. Kostenlos. Es war eine illegale, streng geheime Angelegenheit. Uneheliche Kinder wurden ebenso wenig geduldet wie Abtreibungen, es sei denn, sie wurden diskret von gebildeten Ärzten in wohlhabenden Kreisen durchgeführt. Es galt als Verbrechen. Doch welche Wahl blieb Anna? Ihre Herkunft ließ ihr kaum Spielraum.
An einem frühen Morgen, als die Straßenlichter noch schummrig den Weg erhellten und keine Menschenseele unterwegs war, schlich sich Anna in die Räumlichkeiten einer sogenannten Engelsmacherin. Zwei Frauen entrissen ihr das kleine Wesen aus dem Körper und hinterließen einen ausgelaugten, geschwächten Leib. Anna blieb zwei Nächte dort. Ihre Eltern sorgten sich sehr – sie wussten nicht, wo ihr Kind war.
Wieder zu Hause erlitt Anna einen Schwächeanfall. Der Vater rief einen Arzt. Sie hatte viel Blut verloren, ihr Körper reagierte mit Fieber und Ohnmacht. Der Arzt war besorgt. Die Eltern ahnten, was geschehen war, und beschlossen, das Geheimnis zu bewahren. Niemand durfte davon erfahren – was würden die Leute denken und reden?
Anna erholte sich langsam. Und als wäre nichts geschehen, ging sie wieder zur Schule und half ihrer Mutter im Haushalt.
Als sie Anfang zwanzig meinen Vater kennenlernte, ging alles plötzlich sehr schnell: Hochzeit, Kinder, Hausfrauendasein. Ich wurde geboren – das erste von drei Kindern. Meine Mutter sprach wenig. Sie war ständig beschäftigt: wusch Wäsche, kochte, putzte, badete uns Kinder, bügelte die Hemden meines Vaters. Manchmal lächelte sie oder alberte mit uns herum. Ich liebte ihre Grübchen, die sich dann in ihr feines Gesicht drückten. Doch meist war sie in Bewegung.
Als ich ins Teenageralter kam, fand ich sie oft nachdenklich im Wohnzimmersessel. Sie strickte oder flickte eine zerrissene Hose. Sie klagte über Schmerzen – im Bauch, im Rücken, in der Hüfte. Manchmal musste sie sich hinlegen, oft ging sie zum Arzt. Die Abtreibung damals hatte Spuren hinterlassen. Das schlechte Gewissen, die offenen Fragen und die unterdrückten Gefühle hatten sie still leiden lassen. Manchmal war sie wie ein Schatten ihrer selbst.
Heute lebt sie nicht mehr. Ihr Körper gab viel zu früh auf. Ihre Seele konnte nicht so wachsen, wie sie es gebraucht hätte. Deshalb wünsche ich mir, ihrem Schmerz eine Stimme zu geben – durch das Erzählen ihrer Geschichte. Vieles hat sich verändert für Frauen. Und doch sehe ich die Erschöpfung und die Unsichtbarkeit jener, die unsere Gesellschaft tragen: Die Mütter.