Geboren wurde ich in der Dominikanischen Republik – aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Meine Mutter holte mich im Alter von zwei Jahren hierher, nachdem sie zuvor mit ihrem italienischen Ehemann in Italien gelebt hatte. Auf dem Papier bin ich deshalb Italienerin. Das Leben ohne Schweizer Pass war für mich nie einschränkend oder schwierig – bis zu dem Moment, als ich schwanger wurde und beim Sozialdienst landete.
Mein Freund und ich waren noch nicht lange zusammen, als ich eines Tages nervös auf meine Periode wartete. Sie kam nicht. Für mich war sofort klar: Das Kind würde ich behalten.
Bis zur Corona-Pandemie arbeitete ich in einem Café in Bern. Der Laden musste jedoch schließen, wodurch ich meinen sicheren Job verlor. Als mein Kind während dieser Zeit zur Welt kam, blieb mir – ungeachtet meines inneren Widerstands – nur das Sozialamt.
Zwischen meinem Freund und mir lief es nicht gut. Ich wollte mich trennen, fand jedoch keine Wohnung für mich allein, da ich Schulden hatte. Bis 2018 hafteten Kinder für die Schulden ihrer Eltern. Bei mir war es so, dass meine Mutter während meiner Kindheit Rechnungen nicht beglich: Krankenkasse, Ausbildungskosten – es häufte sich eine Menge an. So blieb ich auf einem riesigen Schuldenberg sitzen, was die Wohnungssuche erschwerte.
Ich war hin- und hergerissen: Trennung oder doch mit dem Kindsvater zusammenbleiben? Ich entschied mich für Letzteres.
Wir zogen zusammen, und er zeigte sein wahres Gesicht. Wenn ich unterwegs war, rief er ständig an, klagte über Kopfschmerzen und Unwohlsein. Ich ließ dann alles stehen und liegen – und fand ihn frisch und munter auf der Couch sitzend, wenn ich zur Tür reinkam. Ich fühlte mich manipuliert und kontrolliert, erinnerte mich an die Beziehungen meiner Mutter – auch sie war oft gefangen in einengenden Partnerschaften. So wollte ich nicht leben.
Hinzu kam die fehlende finanzielle Unterstützung seinerseits: Er absolvierte eine Lehre, und sein Defizit wurde ebenfalls durch das Sozialamt ausgeglichen. Doch da wir zusammenlebten, wurde unser gemeinsames Budget gekürzt – wir verfügten über weniger Mittel als eine alleinstehende Person. Die meisten Ausgaben trug ich. Ich hatte weder die Kraft noch den Willen, ständig um seine Beteiligung zu betteln.
Unser Alltag war von Spannungen durchzogen. Ich verwandelte mich in eine Person, die ich nie sein wollte – und im Grunde auch nicht war: Jemand, der ständig ausrastet, zurechtweist, kontrolliert. „Könntest du die Schokobon-Verpackung bitte wegwerfen? Würdest du die Zahnpastatube nach Gebrauch schließen?“ Ich fühlte mich wie eine Erziehungsperson für den Mann, mit dem ich mir eine Komplizenschaft erhofft hatte. Ich konnte mich selbst nicht mehr im Spiegel ansehen, lehnte mich in dieser dominanten Rolle ab. Das konnte doch nicht mein Leben sein, dachte ich. Also begann ich eine Therapie.
Obwohl ich mich emotional längst von ihm gelöst hatte, fiel mir der physische Abschied unheimlich schwer. Tiefe Schuldgefühle nisteten sich in meiner Brust ein – Versagensängste und existenzielle Sorgen. Ich sah mich Vorwürfen ausgesetzt, die mich wie spitze Pfeile trafen: Ich würde es eines Tages bereuen, meinem Sohn eine „richtige“ Familie vorenthalten zu haben. Ein ständiges Ringen um die richtige Entscheidung – nicht zuletzt, weil ich allein kaum Aussicht auf eine eigene Wohnung hatte.
Meine Therapeutin sagte: „Versuchen Sie einmal, das ganze Chaos, das er bei Ihnen zu Hause hinterlässt, einfach stehen zu lassen. Ermahnen Sie ihn nicht, lassen Sie es, wie es ist, und beobachten Sie, was das mit Ihnen macht.“
Unser Zuhause verwandelte sich rasch in einen Schauplatz der Verwahrlosung. Es roch nach Gras, überall lagen Papiertütchen herum, das Geschirr stapelte sich ungewaschen, der gesamte Haushalt wurde vernachlässigt. Für mich war klar: So konnte ich nicht leben.
Die Trennung verlief alles andere als reibungslos. Er wollte sie nicht akzeptieren, versuchte, mich emotional zu erpressen. Trotzdem blieb ich standhaft. Durch eine Freundin fand ich eine Wohnung – ich schrieb eine ehrliche Bewerbung, und die Verwaltung gab mir trotz Betreibungseinträgen eine Chance.
Mein Ex-Freund verweigerte zunächst jeden Kontakt. Als wolle er mich bestrafen, ließ er mich mit dem Kleinen hängen und zog sich zurück. Erst mit der Zeit begann er, sich sporadisch zu melden, um Nelson zu sehen. Doch die Besuche verliefen nicht immer friedlich: Einmal packte er mich am Arm, bedrohte mich und drängte mich, zu ihm zurückzukehren. Nelson war mitten in den gestauten Emotionen gefangen – er weigerte sich, mit seinem Vater mitzugehen, was Kenny noch wütender machte. Er packte Nelson, stellte ihn in die Badewanne und spritzte ihn mit kaltem Wasser ab. Ich kontaktierte daraufhin die KESB*.
Kenny durfte Nelson fortan nicht mehr sehen. Es wurde festgestellt, dass er eine Bedrohung für mich und mein Kind darstellte.
Anfangs durfte er Nelson nur in Begleitung einer Aufsichtsperson treffen. Mit der Zeit entspannte sich die Lage, und er durfte ihn länger bei sich behalten – auch allein. Heute betreut er ihn meist wöchentlich. Ich gestehe, dass ich ein tiefes Schuldgefühl hatte, ihn bei den Behörden zu melden. Noch heute wird er regelmäßig aufgesucht, und es wird überprüft, ob er seinen Betreuungspflichten nachkommt. Dieses ambivalente Gefühl begleitet viele Mütter: das ständige Ringen zwischen Moral und Pflicht. Am Ende steht das Wohlergehen meines Kindes an erster Stelle – und ich bin froh, dass ich schlimmere Situationen verhindern konnte.
Die Therapie hat mir nicht nur geholfen, mich aus der toxischen Beziehung zu lösen, sondern auch zu erkennen, dass ich neben der Mutterrolle auch Frau sein darf. Anfangs habe ich mich aufgeopfert. Die Müdigkeit klebte an mir wie Kaugummi. Doch dann begriff ich: Wenn es mir nicht gut geht, geht es meinem Kind auch nicht gut. Ich möchte Vorbild sein – für gesunde Selbstfürsorge.
Eine große Last fiel von mir ab, als ich mich in meiner neuen Wohnung einlebte. Doch die Entspannung hielt nicht lange: Solange ich staatliche Unterstützung erhielt, drohte mir die Ausweisung aus der Schweiz. Dabei arbeitete ich bereits wieder fünfzig Prozent. Ich hatte nie in einem anderen Land gelebt und konnte es mir auch nicht vorstellen. Also suchte ich mir eine Anwältin. Sie beruhigte mich: Die Behörden könnten das nicht einfach durchziehen. Es sei eine Drohung, um Druck auszuüben. Ich sei Mutter, nicht selbstverschuldet beim Sozialdienst, und besitze den italienischen Pass.
Ich schrieb einen Brief, erklärte, dass ich alles unternehme, um meine Situation zu verbessern – psychologische Behandlung, Arbeit – und dass es keinen Grund gäbe, mich auszuschaffen. Wohin denn?
Der Schock saß tief: Ich galt als Gefahr für die Öffentlichkeit. Ich – eine Kriminelle, nur weil ich existiere und den Rucksack meiner Vergangenheit trage?
Seit meinem Schreiben habe ich nie wieder etwas vom Migrationsamt gehört. Doch das Gefühl, eine Fremde zu sein, bleibt. Das Vorurteil, Ausländer würden das Sozialsystem ausnutzen, ist falsch. Wer nicht selbst erlebt hat, wie belastend es ist, von dieser Struktur abhängig zu sein, kann sich kaum vorstellen, wie gefangen und ohnmächtig es sich anfühlt. Arm sein gilt als Verbrechen. Glücklicherweise fand ich eine Anstellung in einem Büro, die es mir ermöglichte, von der staatlichen Unterstützung wegzukommen.
Meine Vorgesetzte war eine durch und durch verständnisvolle Frau. Ich fühlte mich gut aufgehoben und vertraute ihr meine finanzielle und familiäre Situation an. Sie setzte sich für mich ein und empfahl mich als ihre Nachfolgerin. Plötzlich war ich in der Rolle der stellvertretenden Leiterin des Unternehmens – ein Wendepunkt, den ich mir nie erträumt hätte. Ich erblühte in meiner neuen Rolle, endlich hatte ich die Sicherheit, die mir so sehr fehlte. Das Beste an der Arbeit war: Sie bot mir die Möglichkeit zum Homeoffice. Das bedeutete, ich musste keine zusätzliche Betreuung für meinen Sohn organisieren. Doch der Wind drehte seine Richtung und wirbelte mich bald darauf rücksichtslos durch die Luft.
Eine neue Leiterin trat die Stelle an. Mit ihr wurde zudem das gesamte Betriebssystem neu eingestellt. Sie kürzte meine Anstellung von 80% auf 40% – ich behielt jedoch den gleichen Lohn. Das bedeutete, ich geriet auf einmal in ein Arbeitsdefizit und musste die Minusstunden aufholen. Nachts wälzte ich mich in meinem Bett, die Gedanken kreisten um die Arbeit und darum, wie ich alles unter einen Hut bringen konnte. Kurz darauf suchte ich das Gespräch, erzählte ihr vom Druckgefühl, von den schlaflosen Nächten. Ihre Antwort: „Das ist nicht mein Problem – sieh zu, dass du alles auf die Reihe kriegst.“
Ich suchte Rat bei ihrem Vorgesetzten, der mir wiederum auch den Rücken kehrte und mir nicht helfen konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich der Situation zu fügen. Die Erschöpfung nahm zu, Freizeit hatte ich kaum mehr, mein Körper streikte. Ein juckender Hautausschlag brachte mich ins Krankenhaus – ich war am Ende.
In dieser Zeit wechselte ich auch den Wohnort, weil ich durch die Minusstunden, die ich krankheitsbedingt nachholen musste, in einen Schuldenkreislauf geriet. Ich wollte Kosten einsparen. Nelson musste in eine Tagesstätte eingewöhnt werden. Doch selbst in dieser Situation stellte mir meine Arbeitgeberin ein Bein: Ich durfte nicht freinehmen, um meinem Kind beizustehen.
Immer stärker drängte sich mir das Gefühl auf, dass sie mich loswerden wollte. Sie erlaubte mir nicht, zu Hause zu bleiben, wenn mein Kind krank war, und teilte mir keine Arbeiten mehr zu. Von Kolleg:innen erfuhr ich, dass meine Aufgaben entweder von ihr oder von jemand anderem erledigt wurden.
Ich suchte erneut das Gespräch, schrieb E-Mails – alles blieb unbeantwortet. Wenn Nelson krank war, musste ich ihn mitnehmen, weil ich nicht fehlen durfte. Es dauerte nicht lange, bis ich die Kündigung erhielt. Eine Welle der Erschöpfung überkam mich, sodass ich mich krankschreiben ließ. Als Grund für die Kündigung nannte sie meine Mutterschaft. An meiner Stelle würde sie lieber zu Hause beim Kind bleiben, ich solle die Zeit genießen und sei ohnehin nicht so verfügbar, wie es in der Arbeitswelt erwünscht sei.
Wieder stehe ich an diesem Punkt – vor der unsichtbaren Mauer und zwischen der Zerbrechlichkeit meines Aufenthaltsstatus, der mir entzogen werden könnte, wenn ich nicht arbeite. Wie ein steiler Berg, den ich jedes einzelne Mal erklimmen muss, wenn ich einfach versuche, das Leben zu leben – als Mutter, als Noemi.
Obwohl vieles in den letzten Jahren schwierig war, hat die Mutterschaft mich positiv verändert. Ich bin verantwortungsbewusster geworden, stehe für mich selbst ein, meine Tage sind strukturiert – etwas, das früher nicht der Fall war. Ein Kind zu haben bedeutet, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Die Rolle der Mutter aktiviert eine Kraft, von der man vorher nicht wusste, dass sie existiert.

