Rumi – Von körperlichen grenzüberschreitungen

„Wer bin ich, ohne die Dinge, die ich bisher gemacht habe? Habe ich mich selbst sabotiert?

Wenn sie drei Wünsche frei hätte, wäre ihr erster Wunsch die Heilung ihrer Seele. Zu lange schon hatte sie sich selbst belogen – vielleicht war es nicht mehr als ein stummer, verzweifelter Ruf nach Rettung, die nie kam. Manchmal lügt man sich nicht aus Naivität an, nicht aus Selbsthass, sondern weil die zerstörerischen Muster so tief in einem festsitzen, als wären sie mit rostigen Ketten an das Innerste geschmiedet. Nur der richtige Schlüssel könnte sie lösen.

Ihr zweiter Wunsch: die vollständige Genesung ihres Körpers. Die Jahre gingen nicht spurlos an ihr vorbei – im Gegenteil. Jede Berührung eines Mannes, gespürt an Stellen, die im Grunde nicht bereit waren, berührt zu werden, hinterließ Risse. Und Narben. Aus diesen Narben sickerte langsam ihre Kraft. Ja, sie hätte Nein sagen sollen. Sie hätte Nein sagen müssen. Doch sie fühlte sich wie eine Marionette, geführt von unsichtbaren Fäden. Blockiert. Fremdgesteuert. Zu oft gefangen in einer Schockstarre – und manchmal mit einem brennenden Verlangen nach Liebe und Anerkennung.

Ihr dritter Wunsch wäre Fülle, in all ihren Formen. Doch vor allem denkt sie dabei an ihre Tochter. Ihr würde sie gerne eine Million hinterlassen, damit sie frei wie ein Vogel sein könnte. Man sagt: Geld ist nicht alles. Wohl wahr, das stimmt. Aber manchmal ist Geld der Unterschied zwischen einem Käfig und der offenen Tür.

Als Rumi klein war, teilte sie ihr Zuhause mit über hundert anderen Kindern, ihren Eltern und den drei Schwestern. Ihre Eltern führten ein Kinderheim. In diesem eng verwobenen Dorf, umgeben von Bergen und Wäldern, spielte das Heim eine zentrale Rolle. Kinder mit mittleren bis schweren Beeinträchtigungen lebten dort, ebenso Verdingkinder.

Still und fast unsichtbar bewegte sich Rumi durch den Alltag – zwischen lauten Stimmen und wildem Treiben. Abends reihte sie sich in die Warteschlange ein, um ihre Zähne zu putzen, um zur Toilette zu gehen. Beim gemeinsamen Essen war ihr Teller meist schon abgekühlt, wenn er endlich vor ihr stand. Sie fühlte sich unsichtbar. Fast so, als wäre sie ein leises Gespenst – eine Beobachterin ihres eigenen Lebens.

Sie betrachtete ihre Eltern – besonders ihre Mutter, die sich hingebungsvoll um die Kinder kümmerte. Doch in den intimen Momenten der Familie griff sie, ausgelaugt, zur Flasche. Sie organisierte üppige Feste: Weihnachten, Ostern, besondere Anlässe. Das Heim kam in den Genuss ihrer Aufopferung, während für die privaten Zeiten keine Energie mehr übrig blieb. Oft lag sie tagelang im Bett. Düstere Stimmung. Alkoholfahne in der Luft. Die Welt draußen wusste nicht, was sich wirklich abspielte hinter der sonnigen Fassade.

Vielleicht wollte Rumis Mutter ihre eigene Kindheit heilen – jene Jahre ohne Mutter und Vater, die sie selbst in einer Pflegefamilie verbracht hatte. Dabei bemerkte sie nicht, dass ihre eigenen Kinder sich ebenso verlassen fühlten, wie sie es einst tat. Die Unsichtbarkeit, die sich in Rumis Wesen eingeschlichen hatte, blieb hartnäckig. Sie wollte niemandem zur Last fallen. Einfach ein Kind sein, das gemocht wurde. Ihr Lehrer nutzte das schonungslos aus. Nach dem Unterricht bat er sie zu sich, setzte sie auf seinen Schoss, streichelte ihre Beine. Hie und da entglitt ihm eine Bemerkung, die einen faden Nachgeschmack hinterließ. „Wie du deinem Vater ähnlich siehst mit deinen Segelohren – echt verblüffend“, hatte er gesagt.

Die abfälligen Kommentare häuften sich. Die Berührungen hörten nicht auf. Rumi verlor allmählich das Gefühl dafür, was richtig und was falsch für sie war. Es schlich sich eine Regelmäßigkeit in die Grenzüberschreitungen von Jungen und Männern in ihr Leben ein, als würde ihr schmaler, zerbrechlich wirkender Körper eine stille Einladung aussprechen. In ihrer Erinnerung steigen Bilder auf: Ein Junge aus der Schule, der sie in der Toilette einsperrte und sie aufforderte, ihm ihre intimste Zone zu zeigen. Ein verwandter Junge, der sie gegen ihren Willen anfasste, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen.

Die persönlichen Alarmglocken, die ein gesundes Körpergefühl mit sich bringen, verstummten, als sie erwachsen wurde. Aber etwas Einschneidendes hat sie durch ihren Lehrer geprägt: Durch ihren Körper und ihre mädchenhafte Zurückhaltung bekam sie männliche Aufmerksamkeit.

„Ich gebe meinen Körper her, damit der Mann zufrieden ist. So bekomme ich meine Anerkennung und Liebe.“

Mit achtzehn wurde bei Rumi ein Herzfehler entdeckt. Als hätte das Herz die Sprache ihrer Seele gesprochen – oder war es umgekehrt? Dieses buchstäbliche Loch im Herzen, was für eine perfekte Ironie, war wie eine Synchronisation mit ihrem Gefühlsleben. Sie hatte schon immer Schwierigkeiten, ihr Herz zu öffnen. Als wollte sie es unbewusst nicht noch mehr zerreißen. Es folgte eine schwere Operation. Ein Schnitt in der Brustgegend. Ihr Herz wurde abgehängt, geflickt und wieder eingesetzt. Sie erlebte einen kurzzeitigen Austritt aus dem irdischen Leben. Obwohl sie schlief, hörte sie die Stimmen der Ärzte. Wieder einmal ging es um ihren Körper – abgewertet, kommentiert.

Mit dieser Narbe trat sie in ihre erste Beziehung. Eine neue Dimension der Grenzüberschreitung begann: emotionale Folter. Alles, was sie tat, wollte er kontrollieren – gleichzeitig stieß er sie mit verletzenden Worten von sich. Beim gemeinsamen Spazieren musste sie Abstand halten, ein paar Schritte hinter ihm bleiben. „Du Kröte, du Kröte, du Kröte“ – es hallte nach. Er versuchte mit aller Macht, sie klein zu halten. Doch mit der Hilfe ihrer Schwester schaffte sie es, nach acht Jahren auszubrechen. Rumi arbeitete als Kindergärtnerin, war Tänzerin, Künstlerin – eine vielbeschäftigte Frau. Allmählich spürte sie, dass sie sich ihrem Innersten zuwenden musste. Die Spiritualität fand immer wieder den Weg zu ihr.

Und bevor sie den Vater ihrer Tochter kennenlernte, erlebte sie zum ersten Mal eine wertschätzende Verbindung. Es gab nur einen Haken: Dieser Mann war kaum anwesend. Alle Welt riet ihr, bei ihm zu bleiben. Ein angehender Architekt – ein Mann, der ihr Liebe zeigte und eine vielversprechende Zukunft voraussagte. Er war so perfekt. Sein Lebensstil vorbildlich. Ein naturverbundener Mensch, dem die Berge näher standen als das Urbane. Goldene Locken über der Stirn. Ein Lächeln, das Wärme versprühte. Doch Rumi tat, was Rumi tun musste: Sie flüchtete. Wenn man unerforschte Gewässer betritt, kann es beängstigend sein. Es fühlt sich zwar gut an, aber nicht echt. Sie fühlte sich falsch an diesem Platz. Und eine tief eingravierte Familienkrankheit brach aus: Depression.

Rumi ging auf Reisen. Und fand sich unter der Bettdecke eines Wildfremden wieder. Sie verbrachte eine befreite Zeit im Ausland – und kehrte doch mit dem Gefühl der Unsichtbarkeit zurück. Alles musste neu sortiert werden in Rumis Leben. Nach einer kurzen Zeit des Singledaseins trat ein neuer Mann in ihr Leben. Als hätte sie ihn herbeigerufen, stand er plötzlich vor ihr: großgewachsen, muskulös, mit schmeichelnden Worten und einer mysteriösen Ausstrahlung. Sie heirateten. Bekamen eine Tochter – Ava. Als Musiker war sein Leben wie er selbst: kreativ und wechselhaft. Schnell wurde klar, dass Rumi auch bei diesem Mann nicht das fand, was sie sich erhofft hatte: Wertschätzung. Einen sicheren Hafen. Sie arbeitete, kümmerte sich um das Kind, nahm Benos ständige Abwesenheit stillschweigend hin.

Wie viele vor ihm, war auch er ein Dieb ihres Seelenfriedens. Eines Tages erfuhr sie von Zwillingen, die ungefähr zur gleichen Zeit geboren wurden wie Ava. Beno war der Vater der Zwillinge, wie sie zufällig erfuhr. Trotzdem blieb sie noch eine Weile bei ihm. Vielleicht aus Trotz. Vielleicht, weil sie ihrem Kind den Vater nicht nehmen wollte. Doch irgendwann wurde der Rucksack zu schwer. Eines Abends lag sie im Bett. Der Körper zitterte. Ihr Herz drohte zu zerspringen. Aus dem Nebenraum drang Benos Stimme zu ihr. Er telefonierte mit der Mutter seiner anderen Kinder. Es klang vertraut. Die beiden lachten. Tauschten flüsternd Geheimnisse aus. Rumi fühlte sich hilflos. Wie gerne hätte sie rebelliert. Laut geschrien. Sich endlich aufgelehnt gegen den Schmerz und das respektlose Verhalten, das ihr immer wieder entgegengebracht wurde. Doch sie schaffte es nicht.

„Wir Frauen tragen alle diese Bürde in uns, die seit Jahrhunderten auf unseren Schultern lastet: Sei brav, sei angepasst, sei gefügig. Ein wesentlicher Beitrag zur Heilung der tiefliegenden Muster in mir – und in uns allen – liegt in der Aufarbeitung der Ahnengeschichte.“

Ein halbes Jahr nach der Trennung ihrer Eltern wurde Ava krank. Eines Morgens erwachte sie mit glühender Stirn. Schwer atmend lag dieses kleine Mädchen, gerade mal zwei Jahre alt, auf ihrer Matratze. Die Augen schwer. Die Glieder wie Blei. Rumi gab ihr ein Medikament. Der kleine Körper begann zu zittern. Als die Krämpfe stärker wurden, fuhr Rumi ins Krankenhaus. Als sie dort ankam, schloss Ava die Augen. Sie reagierte nicht mehr auf die Stimme ihrer Mutter. Ihr Körper glühte noch immer. Die Ärzte verabreichten fiebersenkende Mittel und Valium gegen die Krämpfe. In dieser Nacht machte Rumi kein Auge zu. Ava zitterte. Schäumte aus dem Mund. Doch jedes Mal, wenn Rumi die Krankenschwester rief, war sie wieder ruhig. „Meine Tochter braucht Hilfe“, flehte sie. „Beruhigen Sie sich. Wir tun alles. Bisher hat sie keinen Krampf mehr gehabt. Sie wissen am besten, was Ihr Kind braucht. Kinder schlafen häufig, wenn sie Fieber haben.“ „Aber sie hat Krämpfe. Ihre Augen verdrehen sich. Ihr Körper ist angespannt. Ich möchte, dass Sie endlich herausfinden, was meinem Kind fehlt.“

Ein vertrautes aber schmerhaftes Gefühl stieg in ihr auf. Wieder fühlte sie sich unsichtbar. Zurückgewiesen. Nicht ernst genommen. Sie musste sich für ihre Tochter einsetzen, wenn es sonst niemand tat. Sie bat die Krankenschwester, kein fiebersenkendes Mittel mehr zu verabreichen. Die Krämpfe hörten auf. Ava zog sich immer tiefer in den Dornröschenschlaf zurück. Dann kam eine Ärztin vorbei. Sie sah Ava. Reagierte sofort. „Das kann doch nicht wahr sein!“, sagte sie. „Dieses Kind muss sofort auf die Intensivstation!“ Eine Reihe von Untersuchungen folgte. Nach unzähligen Fehldiagnosen wurde schließlich die richtige gestellt: eine Entzündung des Kleinhirns.

Als Ava nach langer Zeit endlich erwachte, blieb sie noch lange in einem Wachkoma. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Das Sprechen war ihr abhandengekommen. Damals war nicht sicher, ob sie all ihre Fähigkeiten je zurückerlangen würde. Heute ist sie eine gesunde, junge Frau geworden.

Viele Jahre später sehnte sich Rumi nach einem Neuanfang. Sie hatte viel an sich gearbeitet, war tief in ihr Seelenleben eingetaucht, hatte sich in therapeutischen Methoden ausbilden lassen – und wusste: Sie wollte ein neues Leben beginnen. Zusammen mit ihrem Kind. Sie zog in eine andere Stadt. Startete von vorn. Reset. Der Alltag forderte sie erneut heraus: alleinerziehende Mutter, Lehrerin, Schulden und Betreibungen im Nacken. Eine Erschöpfung überkam sie, saugte sie aus – ließ sie schließlich ausgebrannt zurück.

In dieser Zeit kam Tantra in ihr Leben. Man versprach ihr die Tür zum Tor ihrer Weiblichkeit. Einen Weg, Zugang zu ihren intimsten Empfindungen zu finden. Sie erhoffte sich Heilung in dem Bereich, mit dem sie ein Schamgefühl in Verbindung brachte.

Es bot sich eine Ausbildung an – nicht nur für sich selbst, sondern auch, um andere Menschen auf diesem Weg zu begleiten. Rumi wagte es, sich langsam wieder der Liebe zu öffnen. Über Tinder lernte sie Paul kennen. Er war Fotograf und hatte ein eigenes Studio. Sie erzählte ihm von ihren Problemen und zeigte sich verletzlich. Paul zog kurz daraufhin bei Rumi und Ava ein. Er ließ sich von ihr bedienen und präsentierte eine Version von sich, die es im Grunde gar nicht gab. Er lebte hinter seinen Erzählungen. Später fand Rumi heraus, wer Paul wirklich war: ein verurteilter Sexualstraftäter. Angeklagt wegen Übergriffen an Minderjährigen. Als sie alles über seine wahre Identität erfahren hatte, war sie gerade Außerhaus und schrieb ihm eine Nachricht, er solle bis um zwanzig Uhr seine Sachen gepackt haben und aus der Wohnung verschwunden sein.

Rumi suchte Trost in ihrer tantrischen Gemeinschaft. Doch auch dort spürte sie bald, dass etwas nicht stimmte. Ihr wurde klar: Die tantrische Philosophie im westlichen Kontext bewegt sich an der Grenze zum Missbrauch. Viele Männer nutzen sie schamlos aus – subtil, für ihre persönliche Befriedigung. Rumi wandte sich auch von dieser Welt ab und blieb zurück mit einem flauen Gefühl. Mit der Frage: Wie sehr hatte sie sich in der Vergangenheit zu wenig geschützt? Wie oft ihre innere Stimme stummgeschaltet?

„Ich bin mit einem offenen Herzen geboren – physisch wie emotional. Dieses Herz hat so viel Liebe zu vergeben, so viel Platz. Gleichzeitig wurde es so oft gebrochen. Meine Seele hat sich diesen Weg ausgesucht. Ich musste durch diesen Körper die Erfahrungen machen, um einen Teil meiner Familiengeschichte zu verstehen und Heilung in die Ahnengeschichte zu bringen.“

Heute kämpft Rumi um ihre körperliche und psychische Gesundheit. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen. Im Gegenteil: Sie brennt dafür, ihre gewonnene Weisheit mit Menschen zu teilen, die Ähnliches erlebt haben. Und sie hat eine Vision: Dass sich das System – besonders für die Kleinsten – zum Positiven verändert. Dafür steht sie ein. Sie ist bereit, sich voll und ganz für ein gesundes Schulsystem einzusetzen – eines, das sowohl die Kinder als auch Lehrpersonen gleichermaßen trägt.

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