Von Michael „Ben“ Jackson und einem beinahe gelungenen Hackerangriff

Die Müdigkeit hatte sich längst in meinen Körper geschlichen – lautlos, aber beharrlich. Nach intensiven Tagen kurz vor den Herbstferien hätte ich alles gegeben für ein paar Stunden Schlaf. Einen Moment der Ruhe. Ein vollständiges Auftanken meiner erschöpften Batterien.

Es war Freitagnachmittag. Die Ferien hatten gerade begonnen, und die Kinder sprudelten über vor Aufregung. Ihre Ideen schossen in alle Richtungen: Übernachtungsparty, Restaurantbesuche mit Freunden, Kinoplausch.

Das mit dem Nein-Sagen ist so eine Sache. Manchmal möchte ich einfach die unkomplizierte Mam sein. Es ist anstrengend, immer alles richtig machen zu wollen. Ein „Ja“ ist so viel leichter. Und doch – zufrieden ist am Ende meist nur eines der Kinder. Das andere fühlt sich benachteiligt.

Ich sagte Ja zur Übernachtungsparty. Sie begann schon am Nachmittag. Glücklicherweise war ohnehin etwas los: In der Altstadt fand das allmonatliche Straßenfest statt. Meine Mutter öffnete wie immer ihren Laden. Es gab Musik, gute Stimmung – ein Hauch von Leichtigkeit, der sich zwischen die Müdigkeit schob.

An diesem Abend erhielten wir beim Altstadtfest eine Tasche voller Brillen. Während meine Tochter sich ein paar Modelle zum Spielen aussuchte, durchwühlten die Jungs die Tasche mit detektivischem Eifer. Und tatsächlich: Markenbrillen! Die Handys wurden gezückt, Google befragt, Preise verglichen. Ein lautes Kreischen verriet den mutmaßlichen Jackpot.

Bis in die frühen Morgenstunden wurde getuschelt, spekuliert, geplant. Erst mein „Jetzt wird aber mal geschlafen!“ setzte dem nächtlichen Börsenfieber ein Ende. Es wurde mucksmäuschenstill, nur um ein paar Stunden später wieder genau dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten.

„Wir gehen dann mal die Brillen verkaufen“, verkündeten sie, während ich noch mit verschmierter Mascara unter der warmen Decke lag. Die Jüngste schlief tief und fest. Ich konnte doch keine Kinder mit vermeintlich teurer Ware allein losziehen lassen!

„Stop, stop, stop!“, sagte ich und forderte die Jungs auf, mal halblang zu machen. Ich versprach, später mit ihnen zu Speedycash zu gehen, die Brillen zu verkaufen und ihnen selbstverständlich einen Teil des baldigen Reichtums abzugeben.

Sie waren ungeduldig. Träume wurden geschmiedet: neue Schuhe, stylische Klamotten, Handyhüllen, Computerspiele.

Schließlich willigte ich ein. Die Kinder zogen los – mit einer Tasche voller gebrauchter Brillen und meinem mulmigen Gefühl im Schlepptau.

Eine Stunde später standen sie wieder vor der Tür. Gesenkte Köpfe, enttäuschte Gesichter. Niemand hatte sich für die Brillen interessiert – es fehlte die Echtheitsgarantie. Vielleicht lag es auch daran, dass niemand Zwölfjährigen Markenware abkaufen wollte.

Dann kam mir eine Idee: Ich könnte zumindest eine Brille auf Ricardo stellen – diesen Onlinemarktplatz. Damit würde ich meinen Sohn überraschen. Oh, was würde der für Augen machen, wenn er am Ende doch noch ein bisschen Taschengeld verdienen würde.

Ich konnte mein Vorhaben ungestört umsetzen, denn die Kinder würden heute Nacht bei ihrer Oma übernachten. Wann war ich zuletzt abends weg gewesen? Die Erinnerung lag irgendwo hinter einem Gehirnnebel. Ich freute mich auf einen Abend mit meinem Freund. Bis dahin wollte ich noch ein Foto auf Ricardo hochladen. Es handelte sich um eine Prada-Brille. Die Fotos waren klar und professionell, der Text dazu kurz und überzeugend – bestimmt würde jemand interessiert sein. Eine halbe Stunde später klingelte mein E-Mail-Postfach: „Glückwunsch, Sie haben Ihre Brille verkauft.“ Ich lächelte in mich hinein und staunte nicht schlecht, als ich umgehend eine Nachricht auf meinem Handy erhielt – von der Käuferin. Cindy Friston.

Wenn jemand sehr, sehr nett ist, schaltet eine Region in meinem Gehirn automatisch ab. Als würden Kabel durchtrennt, die normalerweise mit dem Bauchgefühl verbunden sind. Auch das Déjà-vu-Zentrum wird gleich mit deaktiviert. Was bleibt, ist der Fokus auf mein Ziel.

Die sofortige Zahlung wollte aber partout nicht klappen. Cindy beklagte, dass ihr Geld nun für dreißig Tage bei Ricardo blockiert sei – was für ein Pech! Sie nahm Kontakt mit dem Kundendienst auf, der ihr angeblich umgehend einen QR-Code für mich und eine Bestätigung ihrer Bezahlung schickte. Cindy tat mir leid. Sie schien verzweifelt. Wollte diese Brille unbedingt haben. Ich versuchte, die Zahlung über den gesendeten QR-Code zu bestätigen – es passierte nichts.

Es wurde Abend, und auf mich wartete eine Michael-Jackson-Tribute-Show. Mein Freund hatte die Karten von einem Arbeitskollegen bekommen. Michael Jackson ist eine Legende – keine Frage. Aber ich gehöre nicht zu seinen treuesten Fans. Sicher gab es mal eine Zeit in meiner Jugend, in der ich mich mit ihm beschäftigt hatte – wer denn nicht? Aber freiwillig wäre ich wohl kaum zu einer Imitations-Show gegangen. Trotzdem fieberte ich einem ausgelassenen Abend zu zweit entgegen.

Als wir im Auto Richtung Lausanne saßen, störte sich mein Freund über mein ständiges Schielen aufs Handy. „Kannst du diesen Verkauf auch mal vergessen?“, sagte er. „Ja, gleich. Irgendwie scheint es ein Problem mit der Überweisung zu geben. Ihr Geld ist blockiert, aber bei mir heißt es, der Verkauf sei erfolgreich gewesen.“ Mein Freund stieß ein skeptisches „Hmm“ aus. „Was ist?“, fragte ich. „Was denkst du?“ Mir wurde plötzlich ein bisschen schlecht. „Meinst du, ich wurde gescamt?“

Während mein Freund uns durch die Dunkelheit steuerte, wanderten seine Augen immer wieder auf mein Handy, wo ich inzwischen nervös die Nachrichten rauf und runter scrollte. „Hat diese Person dir einen Link geschickt?“ „Nein, aber ich bekam eine Zahlungsbestätigung und einen QR-Code von Ricardo. Die Abwicklung sollte über Money Guard laufen – ein Drittanbieter, angeblich sicher.“

Auf einmal fühlte ich mich furchtbar naiv. Schon wieder? Wie konnte ich nur so bescheuert sein? Da versuchte offensichtlich jemand, an mein Bankkonto zu gelangen. Ganz sicher waren wir aber beide noch nicht. „Hast du diesen QR-Code gescannt?“ Mein Herz pochte. „Ja, das habe ich.“

Im Nachhinein fand ich heraus, dass ich damit Zugang zu meinen Handyaktivitäten ermöglicht hatte. Ich überprüfte meinen Kontostand – und stellte mit Erleichterung fest, dass nichts abgebucht worden war.

Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als wir in Lausanne eintrafen. Fünf Minuten zu spät – die Show hatte bereits begonnen. Lausanne besteht aus Treppen und steilen Straßen. Wir kamen keuchend im Foyer des Konzertlokals an. Smooth Criminal dröhnte durch die Eingangshalle. Eine Empfangsdame führte uns zu unseren Balkonplätzen.

Auf der Bühne tanzte ein kleiner, weißer Mann mit Perücke zur wummernden Klangkulisse der Michael-Jackson-Band. Er hauchte nasale Töne ins Mikrofon, hie und da ein „yiih-hii“ à la King of Pop, während er mehr schlecht als recht versuchte, Jacksons Hip Thrusts zu imitieren.

Mein Blick wanderte durchs Publikum. Ein paar ältere Herren sangen ekstatisch zu Thriller, bewegten ihre Körper im Takt. Es gab ein paar wenige Kinder im Saal – und dann war da diese Frau, die mitten in der Show aufstand und gestützt werden musste. Auf halbem Weg nach draußen sackte sie in sich zusammen. Eine kleine Menschentraube versammelte sich um sie, ein Raunen ging durch die Ecke, in der sie kurzzeitig ihren Halt verloren hatte.

Währenddessen tanzten ein paar Frauen um Fake-Michael herum. In der gesamten Formation war keine einzige dunkelhäutige Person. Ich blinzelte zu meinem Freund und dachte: Ich kann ihm unmöglich sagen, dass ich das Ganze hier befremdlich finde. Nichts daran kam Michaels Erbe gleich. Ich meine, er liebt Michael Jackson – bestimmt findet er diese Show super.

Die paar schrägen Töne überhörte ich einfach. Ben, wie der Fake-Jackson tatsächlich hieß, klang in den Schlagzeug- und Gitarrenrhythmen hie und da ein bisschen wie der echte Michael. Dann verstummte die Musik. Die Leute erhoben sich. Pause.

Mein Freund zog sich seine Jacke an. „Gehen wir nach Hause?“, fragte er, sein Blick entschlossen. „Gefällt’s dir nicht?“, fragte ich – weniger erstaunt darüber, dass er die Show ebenfalls fürchterlich fand, als darüber, dass er es keine Sekunde länger aushielt. „Ich kann nicht zwei Stunden meines Lebens verschwenden. Michael Jackson würde sich im Grab umdrehen.“

Wir stahlen uns in die Nacht hinaus. Die in Ohnmacht gefallene Frau kam uns mit bester Laune entgegen. Sie war wohl einfach nur betrunken gewesen.

Auf der Rückfahrt stieß ich auf ein Video der Polizei: eine Warnung vor Betrug auf Onlinemarktplätzen. Die Täter gehen höchst professionell vor. Sie erstellen täuschend echte Dokumente im Ricardo-Design, nutzen QR-Codes, um Zugriff auf Handyaktivitäten zu erhalten. Twint- und Banklogins können sie so problemlos auslesen.

Nachforschungen ergaben: Cindy, die mich per WhatsApp kontaktiert hatte, war vermutlich keine Frau, sondern ein Mann. Standort: Ukraine.

Ich blockierte Cindy sofort – entschied mich dann aber, sie wieder zu entblockieren, nur um ihr zu schreiben, dass ich ihr die Brille trotzdem schicken würde. Schließlich würde ich das Geld ja irgendwann erhalten. Ironie, natürlich. Ich wartete gespannt auf eine Reaktion. Es folgte: Stille. Cindy war eben nicht Cindy – und musste feststellen, dass der Betrug diesmal nicht geklappt hatte. Bam.

Ich wusste nicht, von wem ich mich an diesem Wochenende mehr hinters Licht geführt fühlte: von Michael Ben Jackson oder Cindy Friston. Ersteres war wohl Geschmackssache. Letzteres eine weitere Erkenntnis: Das Internet bleibt ein Ort der Scheinwelt. Man sollte nicht alles glauben, was man sieht. Und diese Worte richte ich besonders an mich.

Diesmal ist zum Glück alles gut gegangen. Aber an der Umsetzung jener Predigt, die ich meinen Kindern halte – Hört immer auf euer Bauchgefühl und denkt zuerst nach – daran muss ich wohl noch arbeiten.

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