Wenn die Welt zu viel verlangt: Ein Plädoyer für neurodivergente Lebensrealitäten

Über Hochsensibilität, Mutterschaft und den Mut, anders zu sein

Mein Körper ist mein innerer Wegweiser – er sendet mir Signale, erinnert mich sanft daran, dass ich wie eine sensible Pflanze bin, die bei zu starkem Wind ins Wanken gerät. Doch allzu oft überhöre ich seine leisen Hinweise, denn es fällt mir schwer, klare Grenzen zu setzen, den Alltag bewusst zu unterbrechen und auf soziale Kontakte zu verzichten.

Ich liebe es, mich mit Menschen zu verbinden, Neues zu entdecken, das Leben in all seinen Facetten zu erfahren und aktiv Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Nur kommt es bei mir immer auf das „Wie“ an. Wie ist die Begegnung, in welchem Kontext befinde ich mich? Dann kann es passieren, dass ich mich plötzlich krank fühle nach intensiven äußeren Einflüssen – die Muskeln brennen, der Kopf wird schwer, die Gedanken diffus. Doch ich bin nicht physisch krank. Ich bin dann in einer depressiven Verstimmung. Es ist alles zu viel.

Die feine Haut der Welt

Oft nehme ich mich selbst anders wahr, als ich wirklich bin. Nach außen wirke ich standfest, laut, belastbar, extrovertiert. Doch in Wahrheit bin ich eine jener feinsinnigen Seelen, bei denen die Schutzschicht kaum vorhanden ist. Lärm erdrückt mich, mein Körper reagiert empfindlich auf vieles – auf Laktose, auf Gedankenkreisen, auf Reizüberflutung. Ich brauche Rückzug, viel Zeit allein, um wieder bei mir anzukommen.

Ich passe nicht in die Rolle, die die Gesellschaft für mich vorgesehen hat. Mein Platz ist noch nicht klar umrissen, und ich bin ständig dabei, mir selbst eine Form zu erschaffen, in der ich bestehen kann – in einer Welt, die so viel Norm verlangt.

Ich bin kein typischer Familienmensch. All das, was man damit oft verbindet – backen, umsorgen, den mentalen Ballast tragen – liegt mir nicht. Und so ebne ich mir meinen Weg neu, immer wieder, so gut ich kann – für mich und für die, die mir nah sind. Es kostet so viel Kraft.

In mir herrscht ein innerer Druck, den fehlenden Teil ausgleichen zu müssen. Wenn ich schon nicht die perfekte Mutter und Hausfrau verkörpere, muss ich doch wenigstens in anderen Lebensbereichen glänzen: als Unternehmerin. Doch auch darin bin ich nicht gut. Wenn ich wählen könnte, wäre ich am liebsten eine Nonne im Kloster. In mir wohnt ein tiefes Bedürfnis nach Alleinsein – im ständigen Konflikt mit meiner Mutterrolle und meinem Beruf.

Kindheit, Prägungen und der lange Weg zu mir selbst

Als Kind wurde mir immer wieder gesagt, ich sei frech und faul. Diese Sätze brannten wie ein Tattoo unter meiner Haut. Ich glaubte den Erwachsenen, den Lehrern, Eltern, allen, die mich erzogen. Mein Verhalten wurde zu meiner Identität.

Ich kämpfte mich durch die Schulzeit, ein enormer Kraftakt, weil mir das Lernen schwerfiel. Meine Eltern wollten eine gesicherte Zukunft für mich. Sie steckten mich ins Internat, später auf eine Eliteschule. Ich musste mich zusammenreißen, Bedingungen erfüllen, mich mit Themen auseinandersetzen, die meinem Wesen nicht entsprachen.

Nach Studium und erstem Job kam das Burnout. Tränen auf offener Straße. Momente, in denen ich nicht einmal wusste, wie ich meine Socken anziehen sollte. Ich erhielt die Diagnose ADHS, bekam Medikamente, funktionierte wie eine Maschine – aber das Menschliche in mir wurde leiser. Ich setzte die Medikamente ab und fiel in ein tiefes Loch. Wer war ich? Was fühlte ich? Wer wollte ich sein?

Mein Partner war bereit für ein Kind, ich nicht. Doch irgendwann gab ich nach. Wegen meiner Endometriose glaubte ich, eine Schwangerschaft sei unwahrscheinlich – das entspannte mich. Doch ich wurde beim ersten Versuch schwanger.

Ich saß weinend auf dem Toilettensitz, das Stäbchen in der Hand, während mein Freund vor Freude übersprudelte. Mein Burnout saß noch in den Knochen. Wie sollte ich mich um ein Kind kümmern?

Ich wollte, dass Stefan mindestens 50 % der Betreuung übernimmt. Ich lernte früh, mich abzugrenzen und mich nicht einzumischen, wenn Levi bei ihm oder den Schwiegereltern war. Wir vereinbarten Paartherapie, falls nötig – und nahmen sie in Anspruch.

Therapien, Abklärungen und das Herausfinden, wie ich mit meiner Persönlichkeit umgehe, nehmen viel Raum ein. Levi hat entgegengesetzte Bedürfnisse. Manchmal fühlt es sich an, als hätte ich ein kaputtes Bein und müsste ein Kind tragen, das ebenfalls ein kaputtes Bein hat.

Ich sehne die Zeit herbei, in der mein Kind groß ist und ich die Rolle der Mutter nicht mehr tragen muss. Es tut weh, das auszusprechen. Ich habe Schuldgefühle, weil Levi oft lange vor dem Fernseher sitzt – mehr Energie habe ich manchmal nicht. Doch eine Freundin sagte einmal: „Sei dir bewusst, von wie vielem du Levi bewahrst.“ Und dieser Satz trägt mich.

Die stille Revolution der Unangepassten

Kürzlich trug ich einen Gedanken mit mir: Was wäre, wenn jene von uns, die nicht der Norm entsprechen – die Hochsensiblen, die Autistischen, die Neurodivergenten – nicht länger als Irrtum betrachtet würden, sondern als wertvolle Seismografen einer Welt im Wandel?

Was wäre, wenn unser Anderssein nicht geduldet, sondern gefeiert würde? Wenn man uns fördern, bestärken, gezielt einsetzen würde, um diese Gesellschaft zu bereichern?

Denn Wandel kam nie von denen, die sich einfügten – sondern von jenen, die irritierten, die aus der Reihe tanzten, die Licht ins Alte brachten.

Die größte Herausforderung ist der Hut, unter dem ich alles unterzubringen versuche, was meine Existenz ausmacht. Ich balanciere auf einer wackeligen Brücke, unter mir der Ozean.

Ich versuche, meine Neurodivergenz in gesellschaftliche Normen einzubringen und gleichzeitig die gleichen Einschränkungen meines Kindes zu begleiten. Ohne meinen Partner würde ich es nicht schaffen – auch finanziell nicht.

Ich arbeite daran, ein eigenes Standbein aufzubauen, um unabhängig zu werden. Würde ich mich trennen, könnte ich drei Monate überleben – dann würde ich fallen. Und doch weiß ich: Ich bin privilegiert im Vergleich zu vielen anderen Frauen.

Wenn ich zurückblicke, sehe ich eine Frau, die immer wieder ihre Grenzen überschritten hat, daran gewachsen ist und Situationen gemeistert hat, die sie nie für möglich gehalten hätte. Darauf bin ich stolz. Und ich glaube: Wenn ich das schaffe, schaffen es viele Frauen da draußen auch.

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