
Vor zwei Jahren zog eine Frau mit ihrer fast erwachsenen Tochter in unser Haus. Das Erste, was sie mir sagte, als ich ihr eines Abends in der Waschküche begegnete, war: „Ich weiß nicht, wie lange ich es hier aushalte. Es gibt einfach zu viele Spinnen in diesem Haus.“ Ich zuckte mit den Schultern, hängte weiter meine Wäsche auf und schenkte ihr ein müdes Lächeln. Wie konnte sie nach nur zwei Tagen ein Urteil über die Spinnenpopulation in unserem Haus fällen? Ich dachte an meine friedliche Mitbewohnerin mit acht Beinen, die ein paar Tage zuvor an meiner Wand klebte und mit mir eine Netflix-Serie schaute. Ich war mir sicher, mit ihren acht Augen sah sie Details, die mir entgingen. Spinnen und ich – wir waren nicht gerade Freunde, aber wie das mit WG-Partner:innen eben ist: Man lebt nebeneinander her. Hin und wieder war mir eine zu groß, dann griff ich zum Glas, setzte sie nach draußen und lebte weiter. Sie vermutlich auch – so hoffte ich. Die Nachbarin zog nach drei Monaten wieder aus. Die Spinnen blieben. Entgegen ihrem Vorschlag wurden sie nicht mit Gift ins Jenseits befördert.
Der Frühling brachte Fruchtfliegen. Hin und wieder eine Küchenschabe, für die ich eine Nulltoleranzgrenze hatte – zum Glück war sie schnell beseitigt. Im Sommer verirrte sich ab und zu eine Biene ins Haus. Alles im grünen Bereich. Doch dann kam der Herbst. Die Blätter färbten sich rot, gold und braun, das Klima wurde rauer, die Tage kürzer. Der Wind pfiff einem um die Ohren. Ich liebe den Herbst mit seinen weichen Farben und den kühlen, nassen Winden, die die Blätter tanzen lassen. Solange man sich in warmen Räumen aufhalten kann, schenkt er Momente der Stille und des Rückzugs. Da erscheint es nur logisch, dass auch die kleinsten Bewohner sich ein warmes Plätzchen suchen – besonders jene, die ursprünglich aus südlichen Regionen stammen und in der Kälte kaum überleben.
Eines Abends schrie meine Tochter laut auf. Ich eilte zu ihr – und sah sie: eine Nosferatu-Spinne. Größer als meine Netflix-Gefährtin von damals. Ihr Körper war hellbraun gemustert, die Augen deutlich sichtbar. Acht Augen, wohlgemerkt. Etwas an ihr wirkte lebendig, fast menschlich. Seelenhaft. Sie war eine Mutter, das spürte ich. Sie bewachte ein selbstgebautes Nest, in dem sie hunderte winzige Babys ausbrütete. Ein neues Gefühl stieg in mir auf – eines, das ich bei Spinnen bislang nicht kannte. War es Ekel? Furcht? Panik? Sie war nicht in der Wohnung, sondern hatte sich im Fensterrahmen häuslich eingerichtet. Doch das machte die Situation nicht besser. Wir wollten sie loswerden. Vor meinem inneren Auge formten sich Bilder: Hunderte kleine Spinnen, die zu monströsen Wesen heranwachsen. Hunderte. Spinnen.
Am nächsten Morgen zog ich mir eine Regenpelerine über – man konnte ja nie wissen. Falls sie sprang, wäre ich geschützt. In der einen Hand ein Besen, die andere in einem Handschuh. Mission Spinnenentfernung wurde eingeloggt. Mit schwitzigen Händen und heftigem Herzklopfen öffnete ich die Fenstertür einen Spalt und stupste das Muttertier auf die Straße. Die Babys wischte ich mit dem Besen weg. Ein schlechtes Gewissen überkam mich. Ich hatte Mitleid. Wie grausam war ich gewesen? Doch es hieß: wir oder sie. Der Gedanke an hundert Spinnen war unerträglich.
Am nächsten Tag, als ich das Küchenfenster öffnete, war sie wieder da. Ich war mir sicher: Sie hegte Rachegedanken. Ein Google-Eintrag später: Spinnen merken sich Gesichter. Ohje. Noch bevor sie in die Küche krabbeln konnte, knallte ich das Fenster zu – ein Bein klemmte fest. „Mam, tu doch was! Nimm ein Glas und wirf sie raus!“, rief eins meiner Kinder. Ich blieb starr, sah zu, wie die Spinne mit aller Kraft versuchte, sich zu befreien. Meine Gefühle schwankten zwischen Mitgefühl, schlechtem Gewissen und Panik. Ich war mir sicher: Sie würde mich beißen, wenn sie die Chance bekäme. Mit größter Überwindung hielt ich das Glas unter ihren Körper, öffnete das Fenster und warf sie hinaus.
Sie suchte das Weite. Oder wurde von einer Krähe gefressen – das redete ich mir ein, als ich sie nicht mehr sah. Der Gedanke, sie könnte bald wieder anklopfen, war schwer zu ertragen. Meine Spinnentoleranz war dahin. Die alten, fast freundschaftlichen Gefühle wurden von Angst verdrängt. Nachts, wenn ich das Licht anschaltete, erwartete ich nervös eine Nosferatu. Das Küchenfenster öffnete ich nur noch mit Vorsicht und sprühte bei jedem Lüften meinen selbstgebrauten Spinnenabwehrcocktail*.
Dann erzählte mir eine Bekannte, dass sie von einer Nosferatu-Spinne gebissen wurde – sie musste ins Krankenhaus. Dabei gilt die Nosferatu als harmlose Giftspinne, ein natürlicher Insektenfänger. Ihr Gift ist für Menschen meist ungefährlich. Sie greift nur an, wenn sie sich bedroht fühlt – und kann durch menschliche Haut beißen. Es fühlt sich an wie ein Wespenstich. Mein Kopfkino bekam eine neue Dimension: Was, wenn sich nachts eine Nosferatu in mein Bett verirrt und mich beißt?
Der Wecker klingelte um sechs Uhr. Keine Spinne unter dem weißen Laken. Erleichterung. Ich wusch mir unter kaltem Wasser die Müdigkeit aus dem Gesicht, während mein Sohn sich zum Kleiderhaufen schleppte, der noch geduldig auf mich wartete. Ein lautes Kreischen aus der Ecke. „Hilfe, Mama!“, rief mein Sohn. Ich ahnte Ungutes. Und mein Verdacht bestätigte sich: Da saß sie wieder – mit ihren acht Augen und acht haarigen Beinen – mitten auf dem Kleiderberg. Ein wohlduftendes Nest, das sie sich da ausgesucht hatte. Draußen war es dunkel, im Haus noch still. Staubsauger. Der Staubsauger musste her. Ich biss mir auf die Lippen und saugte das große Insekt ein. Ich bildete mir ein, ihre Landung im Beutel gehört zu haben. Den Sauger brachte ich in den Keller. Dort steht er seither ungenutzt. In der Hoffnung, sie hat sich dort ein neues Zuhause eingerichtet – falls sie aus dem Rohr gekrabbelt ist und nicht das Zeitliche gesegnet hat.
Ein kleiner Trost fand ich in einem Artikel über die spirituelle Bedeutung der Spinne:
In der Welt der Spiritualität haben Tiere oft tiefe symbolische Bedeutungen, die uns wichtige Lektionen für unser persönliches Wachstum lehren können. Die Spinne ist ein solches Tier, das in vielen Kulturen und spirituellen Traditionen als kraftvolles Symbol betrachtet wird. Die Spinne repräsentiert Kreativität und Schöpfung. Sie wird oft mit dem Akt des Webens assoziiert, was auf die Fähigkeit hindeutet, seine eigene Realität zu gestalten und zu manifestieren. (Quelle: https://mentalerfokus.de/spirituelle-bedeutung-spinne/)
Die gehäufte Begegnung mit der Nosferatu-Spinne hat mich erschreckt – und zugleich erinnert. Ich bin selbst dabei, mein Leben neu zu weben. Vielleicht nehme ich sie gerade deshalb so intensiv wahr: Weil sie mir zeigt, dass Veränderung nicht nur schön, sondern auch beängstigend sein kann. Dass das Neue oft mit alten Ängsten verknüpft ist. Die Spinne steht für Kreativität, für das Gestalten der eigenen Realität. Sie webt ihr Netz mit Geduld, mit Präzision, mit einem inneren Wissen um Struktur und Verbindung. Und vielleicht ist das ihr Geschenk: Uns daran zu erinnern, dass wir selbst die Fäden in der Hand halten – auch wenn sie manchmal zittern. Dass wir unsere Geschichten spinnen dürfen, aus dem, was war, und dem, was werden soll. Dass selbst das Furchterregende eine Botschaft tragen kann, wenn wir bereit sind, hinzusehen.
Ich habe gelernt: Manchmal zeigt sich das Wesentliche in Gestalt einer Spinne im Fensterrahmen. Nicht, um uns zu erschrecken – sondern um uns zu erinnern, dass wir lebendig sind. Und dass wir den Mut haben dürfen, unser eigenes Netz zu weben.
Spinnenabwehrcocktail – eine kurzanleitung
Was ihr braucht, ist eine Sprühflasche und ätherisches Pfefferminzöl. Laut Studien mögen Spinnen den Duft von Minze nicht. Die Sprühflasche mit Wasser befüllen und 15–20 Tropfen Pfefferminzöl hinzufügen. Gut schütteln – schon ist der Abwehrspray für seinen Einsatz bereit. Beim Lüften die Fensterrahmen einsprühen. Für die vollumfängliche Wirkung kann ich nicht garantieren. Aber: Seit dem täglichen Einsatz, wurde es ruhig in unseren Fensterrahmen. Einen Versuch ist es allemal wert. Nebeneffekt: Es duftet angenehm nach Minze.
Echt super Text